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Es ist nie zu spät
Rund 63.000 Kärntnerinnen und Kärntner haben gravierende Lese- und Schreibschwächen. Basisbildungskurse gibt es nahezu flächendeckend – aus Angst und Scham werden diese aber oft nicht in Anspruch genommen. Für die Betroffenen bedeutet das häufig den direkten Weg in die soziale Isolation, Krankheit oder Armut.
Alphabetisierung und Basisbildung
Vroni ist 54 Jahre alt und Köchin. Über Jahre hinweg hat sie jedes einzelne Rezept auswendig gelernt, weil sie nicht lesen und schreiben konnte. Musste sie mal zum Amt, hat sie sich ihre Hand einbandagiert, um nicht schreiben zu müssen. Kam sie in die Verlegenheit, etwas lesen zu müssen, gab sie vor, die falsche Brille eingepackt zu haben. Bei jedem Weg, den sie machte, war sie begleitet von der Angst, irgendjemand außerhalb ihres familiären Umfelds könnte ihr größtes Geheimnis aufdecken. Die Mauer, die sich Vroni aufbaute, wurde immer höher: „Ich musste immer aufpassen, was ich zu wem sage und ich habe dabei unheimlich gelitten.“ Vroni ist mit ihrem Schicksal nicht alleine. Österreichweit haben laut PIAAC-Studie rund eine Million Menschen eine geringe Lesekompetenz. „Wir sprechen hier nicht von Menschen, die das Alphabet nicht beherrschen und überhaupt nicht lesen oder schreiben können, sondern von Menschen, die gravierende Defizite in der Basisbildung haben: also beispielsweise nicht sinnerfassend lesen oder einen Brief, Bewerbungen etc. schreiben können“, so Tanja Leitner, VHS-Projektkoordinatorin der Kärntner Volkshochschulen. „Das Tabu ist nach wie vor sehr groß – vor allem in den ländlichen Gebieten ist es schwierig, zu den Leuten vorzudringen. Hier sind Angst und Scham extrem hoch.“
Nur nicht verstecken
Noch vor ein paar Jahren wäre es auch für Vroni undenkbar gewesen, offen darüber zu reden. Heute ist sie Basisbildungsbotschafterin und erzählt ihre Geschichte sogar vor einem Millionenpublikum im Radio und Fernsehen, denn „jeder Mensch hat irgendwelche Schwächen, und dafür braucht man sich nicht verstecken.“ Aber sie weiß auch aus eigener Erfahrung wie schwer es ist, den ersten Schritt zu setzten. „Freilich hab ich Angst gehabt – jeder hat Angst beim ersten Mal.“ Und dennoch: mit dem ersten und wichtigsten Schritt, Hilfe und Kursangebote in Anspruch zu nehmen, hat sie den Grundstein für ein völlig neues, selbstbestimmtes Leben gesetzt. „Es ist eine Wahnsinnserleichterung“, so Vroni, „ich kann zum Beispiel endlich im Gasthaus selber die Speisenkarte lesen und das bestellen, was mir schmeckt und nicht das, was andere bestellen.“
Basisbildungsbedarf –
ein gesellschaftlich relevantes Problem der Gegenwart
1966 wurde der Weltalphabetisierungstag ins Leben gerufen, um die Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam zu machen und Betroffene zu ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Heute, 50 Jahre später, hat sich die Problematik durch die Veränderungen in der Gesellschaft und Arbeitswelt sogar noch weiter zugespitzt. „Es gibt kaum noch Jobs, in denen man nicht lesen und schreiben könne muss“, so Leitner, „jede Reinigungskraft muss Zeiterfassungsprotokolle erstellen oder jeder Lagerist einen Scanner bedienen können.“ Und Tanja Leitner erzählt noch die Geschichte eines Plakatierers. Ein bemühter Arbeiter, der eines Tages Plakate mit einem Schriftzug falsch zusammenfügte und affichierte. Die erste Vermutung seines Arbeitgebers, er wäre betrunken gewesen, stellt sich als komplett falsch heraus. Der Arbeiter konnte nicht lesen. „Wie es dazu kommt? Es ist meist ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren“, weiß Leitner aus ihrer langjährigen Erfahrung in der Basisbildung. „Oftmals steckt eine unglückliche Lerngeschichte dahinter, die Betroffenen sind zumeist Menschen aus Familien, in denen Bildung keinen hohen Stellenwert hatte oder Kinder, die in ihrer Kindheit krank waren und viel versäumt haben.“
Mut zum ersten Schritt
„Alles, was man in unserem Schulsystem in der Volksschule versäumt, schafft das System später nicht mehr aufzuholen“, so Leitner. Vroni ist drei Jahre in die erste Klasse gegangen und hatte eine Lehrerin, die sie über die Jahre hinweg vor der Klasse demütigte „Sie hat immer nur meine Sachen vorgelesen, egal, ob richtig oder falsch.“ Als Kind hat sie dadurch die komplette Lust an der Schule und am Lernen verloren und sich immer mehr verschlossen. „Wir geben Perspektiven und Selbstvertrauen“, so Tanja Leitner „unser Ziel ist es, möglichst viele Menschen zu erreichen und zu ermutigen, den ersten Schritt in die Kursmaßnahme zu setzen.“ So wie etwa auch Ronald, neben Vroni der zweite Basisbildungsbotschafter in Kärnten. Er war ehemals Sonderschüler und damit in seinem weiteren
Lebensweg gebrandmarkt. Eine Lehre als Konditor wurde ihm aufgrund seiner Sonderschul-erfahrung verwehrt. Ronald wurde Glasschleifer und schaffte trotz aller Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben die Gesellenprüfung, die damals noch mündlich abverlangt wurde. Was ihn schlussendlich dazu bewegte, dennoch sich seinem Schicksal entgegenzustellen: die Berufung zum Obmann eines Chores, in dessen Funktion er viele E-Mails zu schreiben hatte, die er damals nur mithilfe seiner Lebensgefährtin meistern konnte.
Betroffene gefordert, etwas zu tun
„Viele Menschen haben sich mit ihren Defiziten arrangiert und Wege gefunden damit umzugehen“, so Tanja Leitner, „viele haben auch Menschen an ihrer Seite, die sie dabei unterstützen, den Alltag zu bewältigen. Erst durch einen biographischen Bruch, bei dem das Helfersystem wegfällt – sei es durch Scheidung, Tod u. ä. – sind die Betroffenen gefordert, etwas zu tun.“ Ronald hat es geschafft, und auch Vroni „will jetzt dranbleiben.“ In der Selbstlerngruppe trifft sie sich regelmäßig mit anderen Kursteilnehmern; sie tauschen sich untereinander aus und lernen gemeinsam. Für Tanja Leitner ist die Arbeit als Projektkoordinatorin in Kärnten eine große Herausforderung aber vor allem auch Herzensangelegenheit. „Unser primäres Ziel ist es, das Tabu zu brechen. Mittel und Wege zu finden, zu den Menschen vorzudringen und sie zu ermutigen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und etwas zu tun“, so Leitner, deren Engagement rund um die Basisbildungsangebote in Kärnten 2014 bereits mit dem größten Preis der österreichischen Erwachsenenbildung – dem Ludo-Hartmann-Preis – gewürdigt wurde.
Text: Gerlinde Tscheplak
VHS-Grundbildung
Lesen, Schreiben, Rechnen und PC für Erwachsene
Kursorte Villach, Klagenfurt, Spittal, Wolfsberg, St. Veit, Feldkirchen, Hermagor, Völkermarkt
Das Angebot ist anonym und kostenlos und individuell auf die Kursteilnehmer abgestimmt. Unterrichtet wird in kleinen Gruppen mit maximal sechs Teilnehmern – der Einstieg ist jederzeit möglich. ALFATELEFON 0800 244 800
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